AntiJob: Die russische anarchistische Arbeitsseite, die den Bossen Angst macht

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Ein Interview

Seit 2001 bietet die kollektiv betriebene Website Antijob.net eine “‘Schwarze’ Liste der Bosse”, auf der Arbeiter*innen in Russland über ihre negativen Erfahrungen am Arbeitsplatz berichten können. Da die russischen Medien und die gewerkschaftliche Organisierung zunehmend unter Druck geraten sind, stellt Antijob auch in einem extrem repressiven Umfeld weiterhin eine wichtige Ressource für normale Arbeiter*innen dar. Russische Unternehmen und Regierungsbehörden haben wiederholt versucht, die Herausgeber*innen zu bestechen oder die Website zu unterbinden – ohne Erfolg. Die so genannte “Große Resignation” und eine beliebte Antiwork-Reddit-Seite haben kürzlich in den Vereinigten Staaten Wellen geschlagen; wir haben das folgende Interview mit Antijob geführt, um zu erfahren, wie Antiwork-Agitation in Russland aussieht.

Antijob hat auch eine Rolle bei der Unterstützung der Proteste gegen die Invasion in die Ukraine gespielt und russische Arbeiter*innen über ihre gesetzlichen Rechte am Arbeitsplatz informiert, wenn sie bei Protesten verhaftet werden.

Als Anhänge haben wir das Antijob-Manifest, die Antijob-Erklärung gegen den Einmarsch in die Ukraine und einige Beispiele für die Berichte, die Arbeiter*innen auf der Website veröffentlichen, beigefügt.

“Denkt daran und sagt es anderen: Eure Interessen stehen im Gegensatz zu den Interessen der Bosse. Das ist ein Kampf, der seit Jahrhunderten andauert. Der Kampf zwischen denen, die versuchen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und denen, die eine neue Yacht kaufen wollen”.

-Antijob, “Keine Loyalität gegenüber den Bossen!”


Bosse schreiben immer über Antijob. Sie sagen dies und das – sie verleumden, sie behaupten, dass sie verleumdet wurden, sie sprechen über die Intrigen ihrer Konkurrent*innen. Kommt schon, sagen sie, entfernt die Geschichte über die nächste LLC [Limited Liability Company] “Lepjoschki und Matrjoschki”, sonst werden wir euch verklagen. Oder, im Gegenteil, sie bieten uns Geld an, damit wir das Material entfernen…

Um ehrlich zu sein, wollen wir die Bosse nicht wirklich besser machen. Der Konflikt zwischen Arbeiter*innen und der Chefetage, ob akut oder schlafend, ist ein integraler Bestandteil des Kapitalismus. Er wird nur mit der Ablehnung des Lohnarbeitssystems als solchem vollständig überwunden werden.

-Antijob, “Die Annahme der Klassenschuld”

“Keine Loyalität gegenüber den Bossen!”


Erklär doch bitte zunächst, was Antijob.net ist und was es tut.

Technisch gesehen sind wir eine Feedback-Webseite, auf der Arbeiter*innen negatives Feedback über ihre Jobs hinterlassen können. Außerdem sind wir eine Mikro-Medienplattform über den Arbeitsplatz und die Arbeit.

Politisch gesehen sind wir ein anarchistisches Projekt, das auf das Problem der Lohnarbeit hinweist und die Arbeiter*innen dazu aufruft, sich zu organisieren, um für bessere Arbeitsbedingungen und natürlich gegen Kapital und Staat zu kämpfen.

Was inspiriert euch, Antijob weiterzuführen?

Wahrscheinlich ist der Hauptgrund für die Fortsetzung des Projekts und seine ständige Erneuerung (da die meisten Mitglieder des ursprünglichen Teams gewechselt haben) das greifbare Ergebnis, das wir spüren können. Wir wissen, wie viele Nutzer*innen unseren Server verwenden, und wir wissen, dass er dazu beiträgt, Druck auf die Bosse auszuüben, und das mit relativ geringem Aufwand für uns. Wir geben den Arbeiter*innen ein Druckmittel in die Hand und sie nutzen es effektiv. Was uns betrifft, ist das ein Erfolg.

Erzähl uns ein bisschen was über das Projekt und was sich mit der Zeit verändert hat.

Antijob entstand in den frühen 2000er Jahren als Reaktion auf das Aufkommen von Job-Aggregatoren, die sich an junge Menschen richteten, die damals einen großen Teil der Internetnutzer*innen ausmachten. Diese Dienste romantisierten die “Karrieren”, die sie versprachen, und dann erfuhren ihre Nutzer*innen auf die harte Tour, dass diese Karrieren aus Zeitarbeit für miserable Löhne bestanden, gefolgt von Entlassung und Betrug. Das war das Ziel unserer Kritik; die Methodik ist geformt durch direkte Aussagen von Arbeiter*innen. Mit der Zeit breitete sich das Internet aus, aber die Probleme blieben dieselben. Das Publikum der Stellensuch-Websites wuchs – und damit auch das unsere.

Die ursprüngliche Version der Webseite und der Botschaft war aggressiver; jetzt sind wir etwas weniger radikal. Aber wir sind nicht in orthodoxen Marxismus verfallen, wie es für Gruppen, die sich mit dem Thema der Arbeiter*innenbewegung in Russland befassen, sonst üblich ist.

“Blacklist of employers—Antijob.net. Add yours.”

Welchen Einfluss hat Antijob auf die Arbeiter*innen in Russland gehabt? Wie hat sich das politische Umfeld seit deinen Anfängen verändert?

Man könnte sagen, dass unsere Webseite eine Pionierin auf dem Gebiet der Jobbewertungen in Russland war. Die Bosse erkannten, dass Meinungen im Internet eine Bedrohung für ihr Geschäft darstellen könnten, und es entstand der Bereich der “Reputationsarbeit”, der selbst zu einer Art Geschäft geworden ist.

Für die Behörden scheinen wir keine offensichtliche Bedrohung darzustellen. Es gibt Klagen gegen uns und die Behörden sperren sogar die Website, aber diese Probleme wurden von den Bossen initiiert.

Natürlich hat sich die Situation in dem Maße verschärft, wie die Kontrolle über das Internet zugenommen hat. Auch die politische Situation hat sich verschlechtert. Die Behörden und die Polizei haben begonnen, uns häufiger zu schreiben, und wir sind sicher, dass wir früher oder später endgültig gesperrt werden, so wie es in Belarus und Kasachstan der Fall ist.

Wie moderiert ihr die Einsendungen? Habt ihr ein Verfahren zur Überprüfung der Fakten? Wie entscheidet ihr, was ihr veröffentlicht?

Alle Beiträge werden manuell moderiert. Wir haben mehrere Validierungsstufen; die höchste Stufe erhalten die Beiträge, bei denen ein Nachweis über die Tätigkeit für das Unternehmen beigefügt ist, z. B. Korrespondenz oder Dokumente. Dann gibt es Bewertungen, die von der Person, die ihre E-Mail-Adresse hinterlässt, bestätigt werden; dies ist die Mehrheit.

Positive Bewertungen werden von uns herausgefiltert, da sie im Prinzip nicht objektiv sind. Es ist fast unmöglich, die Gültigkeit einer positiven Bewertung zu überprüfen.

Wir haben auch einen automatischen Bewertungsprüfer, der uns auf verdächtige Aktivitäten aufmerksam macht und uns ermöglicht, Personen zu identifizieren, die versuchen, unsere Webseite zu missbrauchen.

Wir führen keine detaillierte Faktenprüfung durch. Bei über 150 Bewertungen, die jede Woche eingehen, ist das technisch unmöglich. Auf jeden Fall erheben wir nicht den Anspruch auf absolute Objektivität. Für uns besteht ein offensichtliches Machtgefälle zwischen dem*der Arbeiter*in und dem*der Chef*in, so dass wir dem*der Arbeiter*in standardmäßig mehr vertrauen.

“Arbeit gegen die Arbeit”

Wir wissen, dass es Versuche gegeben hat, Antijob zu beseitigen.

Sie versuchen oft uns zu hacken und von Zeit zu Zeit erleben wir Brute-Force-DDoS-Angriffe [Distributed-Denial-of-Service] auf unsere Webseite. Diese Angriffe werden von den Bossen organisiert: Sie wollen sich entweder für die veröffentlichten Bewertungen rächen, oder sie versuchen, die Bewertungen zu entfernen oder herauszufinden, wer der*die Autor*in ist. Wir entfernen keine Bewertungen gegen Geld, so dass ein*e verärgerte*r Chef*in die Wahl hat, entweder Geld für Anwaltskosten auszugeben oder Hacker*innen anzuheuern.

Die zweite Art von Angriffen kommt von so genannten “konkurrierenden Unternehmen “ aus dem Bereich des Handels. Sie erstellen Kopien unserer Website, kaufen ähnliche Domains und versuchen, den Datenverkehr zu kapern, um mit dem Abschöpfen von Bewertungen Geld zu verdienen. Seit kurzem gehen sie noch raffinierter vor und greifen die Verhaltensfaktoren der Website mit Hilfe von Bots an, die die durchschnittliche Besuchszeit auf der Website und die Ablehnungsquote verringern, um die Sichtbarkeit unserer Website in den Suchmaschinen zu reduzieren.

Ein weiteres Thema sind die Gerichte und RosComNadzor (die russische Behörde für digitale Kontrolle). Einige Unternehmen gehen vor Gericht, um zu behaupten, dass Bewertungen über sie verleumderisch sind. Wenn ihre Bemühungen vor Gericht erfolgreich sind, erhalten wir nach einer Weile eine Aufforderung von RosComNadzor, die Informationen zu entfernen. Wenn wir sie nicht entfernen, werden wir gesperrt. Das ist schon mehrmals passiert.

Jetzt entfernen wir die Bewertungen auf Aufforderung des RCN und fügen eine Rechnung und einen Link zur Gerichtsentscheidung bei, die oft den Text der Bewertung enthält. Wenn wir die Bewertungen nicht entfernen, werden wir blockiert, der Datenverkehr auf der Website geht um 70% zurück, und die Platzierung in den Suchmaschinen sinkt, was den Angriff auf den Ruf der Bosse entsprechend weniger effektiv macht. Wir sind ständig auf der Suche nach Möglichkeiten, diese Bedrohung zu umgehen. Kürzlich ist es uns gelungen, es so zu ändern, dass die gesperrten Bewertungen nur für russische IPs verborgen sind, während alle anderen (einschließlich VPN/TOR-Nutzer*innen) sie problemlos einsehen können.

Manchmal schreiben uns die Polizei und andere Behörden und verlangen, dass wir die Daten der Autor*innen herausgeben. Auf diese Anfragen antworten wir, indem wir die Daten von Wegwerf-E-Mails und die IP eines TOR-Knotens übermitteln. Es ist ein unglaublicher Zufall, dass alle, die von der Polizei gesucht werden, TOR verwenden und ein hohes Maß an digitaler Sicherheit nutzen, nicht wahr =). Die Polizei ist nicht sehr erpicht darauf, herauszufinden, was los ist.

“Kein Gehalt – esst die Bosse.”

Könnt ihr Leuten Ratschläge geben, die vielleicht versuchen, etwas Ähnliches anderswo zu starten?

Es muss gesagt werden, dass es schwierig sein kann, solche Projekte von Grund auf neu zu starten. Die Waffe unserer Webseite ist ihre hohe Sichtbarkeit in den Suchmaschinen und die Bekanntheit, die sie erlangt hat. Diejenigen, die anfangen wollen, sollten bereit sein, kostenlos zu arbeiten, aber auf einem höheren Niveau als kommerzielle Unternehmen. Der Reputationsmarkt ist schon vor langer Zeit entstanden, und es gibt eine Menge Leute, die daraus Profit schlagen wollen und bereit sind, Ressourcen zu investieren. Wir haben zum Beispiel mit kommerziellen Feedback-Seiten zu kämpfen, mit Konkurrenten*innen, die Nutzer*innen durch Werbung abfangen, mit Bot-Angriffen auf die Webseite usw.

Wir sind für unsere Konkurrent*innen und für Bosse unbequem, weil wir an dem Grundsatz festhalten, keine Bewertungen gegen Geld zu entfernen. Wenn ihr jedoch ein Team oder eine starke Bewegung habt, braucht ihr Mitstreiter*innen, die über technische Kenntnisse in der Webentwicklung verfügen, die die Grundlagen der SEO [Search Engine Optimization] und der Sicherheit im Internet verstehen, da Unternehmen durchaus bereit sind, Hacker*innen zu bezahlen, wenn ihr nicht bereit seid, Bewertungen zurückzuziehen.

Ihr müsst darauf vorbereitet sein, regelmäßig Zeit für die Moderation und die Kommunikation mit den Nutzer*innen aufzuwenden, sowie auf Konfrontationen mit dem Staat und den Gerichten. In den westlichen Ländern können die Probleme mit dem Gesetz noch größer sein als in Russland und der GUS [Gemeinschaft Unabhängiger Staaten].

In der ersten Phase ist nicht die Superfunktionalität das Wichtigste, sondern die Öffentlichkeitsarbeit. Was die Verbreitung angeht, so haben uns Sticker sehr geholfen. Das ist eine triviale Methode, die bei anderen Projekten oft nicht gut funktioniert hat, aber unsere Sticker bleiben meist sehr lange hängen. Scheißarbeit ist ein sehr verständliches Problem für Menschen jeder politischen Überzeugung. In der Zeit, in der die anarchistische Bewegung in Russland aktiv war, haben wir dank der Sticker genügend Nutzer*innen aus großen Städten gewonnen.

“Antijob.net—blacklist of employers.” Diese Sticker haben wesentlich zur Verbreitung von Antijob.net beigetragen.

Wie seht ihr den Zusammenhang zwischen verschiedenen Formen des Arbeitswiderstands wie Gewerkschaften, Diebstahl am Arbeitsplatz, Kampagnen mit öffentlichem Druck usw.? Welche dieser Taktiken sind in Russland durchführbar?

Für uns sind alle Methoden miteinander verknüpft, und jede hat ihre Vor- und Nachteile sowie regionale Besonderheiten. Gewerkschaften sind eine gute Organisationsstruktur, aber in Russland können sie nur in Branchen mit großen Unternehmen existieren und sind oft von Bürokratie überwuchert. Stehlen ist eine gute Taktik für individuelle Sabotage, wird aber in der Gesellschaft nicht gern gesehen und wird das globale Problem der Lohnarbeit wahrscheinlich nicht ändern. Öffentlicher Druck ist in einem ausreichend großen Maßstab wirksam, aber es ist unmöglich, Menschen zu mobilisieren, um gegen Tausende von kleinen täglichen Rechtsverletzungen zu kämpfen, an denen Hunderte von Unternehmen beteiligt sind. Solidaritätsnetzwerke als Beispiel für verteilten Druck sind gut, aber sie erfordern Ressourcen von regionalen Aktivist*innengruppen (es ist unwahrscheinlich, dass irgendjemand so etwas in Russland initiieren wird, außer diesen Gruppen), und bisher haben wir keine Beispiele dafür gesehen, dass solche Gruppen einen dauerhaften Bestand haben.

All diese Taktiken erfordern eine Mobilisierung und ein gewisses Maß an politischer Freiheit, beides fehlt in Russland, vielleicht abgesehen von passiver Sabotage (z.B. Verweigerung effektiver Arbeit) oder aktiver Sabotage (Diebstahl und vorsätzliche Beschädigung), und vielleicht auch Hacktivismus. Unserer Meinung nach liegt die Zukunft in Taktiken, die nicht unter die Kontrolle der repressiven Strukturen fallen und von den Vorgesetzten nicht eindeutig angegriffen werden können, die aber in der Lage sind, konkreten, gezielten Schaden anzurichten. Früher oder später wird sich die politische Situation ändern und der Weg wird sich für die anderen Taktiken öffnen.

Wie siehst du die Zusammenhänge zwischen gewerkschaftlichem Widerstand und anderen Formen politischer Aktivität? In den letzten 40 Jahren haben wir erlebt, wie Arbeiter*innenbewegungen, Gewerkschaften und Kämpfe am Arbeitsplatz in den Vereinigten Staaten schwächer geworden sind, während andere Konfliktfelder (wie z. B. Anti-Polizeiaufstände) zugenommen haben. Habt ihr eine Analyse darüber, wie sich das Terrain der Arbeitskämpfe verändert und wie Kämpfe am Arbeitsplatz mit anderen Kämpfen verbunden bleiben können?

Wir sehen Arbeit als ein zentrales Konzept, das auf allen Ebenen eifrig verteidigt wird, von direkten Angriffen durch die Polizei bis hin zu konzeptioneller Kritik durch rechte Intellektuelle. Die Gewerkschaften waren schon früher die Antwort, aber die neoliberale Wende hat ein breites Instrumentarium für ihre Bekämpfung bereitgestellt. Die Kämpfe gegen Polizeigewalt sind, wie einige andere Massenproteste, jünger und mobiler in der Wahl ihrer Taktiken, auf die der Staat noch keine wirksame Antwort hat. Hinzu kommt, dass friedliche Formen des Widerstands in vielerlei Hinsicht leider erst dann eine konkrete Bedrohung darstellen, wenn sie sich zu Besetzungen entwickeln. Bei einer organisierten Arbeiter*innenbewegung geht es nicht nur um gelegentliche Kundgebungen, sondern darum, dass der Staat Geld für Sozialprogramme ausgeben muss und die Unternehmen unter der ständigen Androhung von Streiks angemessene Löhne zahlen und den Arbeiter*innen Garantien bieten müssen. Das ist wahrscheinlich teurer als der Unterhalt von ein paar Bereitschaftspolizeieinheiten.

Aber die Arbeiter*innenbewegung ist oft sehr konservativ, die Gewerkschaften haben ihre eigenen strukturellen Probleme, und neue Praktiken (wie Solidaritätsnetzwerke) sind noch nicht zu einem wirksamen Kampfinstrument geworden.

Es erscheint uns nur selbstverständlich, dass das Problem der Arbeit relevant bleibt. Die Menschen, die am meisten unter Polizeibrutalität, Rassismus, Umweltkrisen und anderen Problemen leiden, sind selten Geschäftsleute. Sie arbeiten – offiziell oder illegal – und sie leiden unter der Giftigkeit des Marktsystems. Die Frage ist nur, inwieweit wir (die wir im Wesentlichen zu denselben Arbeiter*innen gehören) diese Agenda relevant machen können.

In den Vereinigten Staaten wurde in den Nachrichten viel über die so genannte “Große Resignation” berichtet, bei der es um all die Arbeiter*innen geht, die seit Beginn der Pandemie ihre Stelle gekündigt haben. Ist in Russland etwas Ähnliches geschehen? Ist es eine Form des Widerstands, seinen Job zu kündigen?

Auch in Russland gab es viele Kündigungen – auch wenn es nicht wirklich Kündigungen waren, sondern eher Unternehmen, die Leute entlassen haben, um Kosten zu sparen. Ohne Sozialleistungen oder irgendwelche Garantien. Der erste Lockdown hat die Atmosphäre so angespannt, dass es danach keine weiteren Lockdowns mehr gab. Die Menschen waren arbeitslos, und da die meisten Russ*innen keine Ersparnisse hatten, wohl aber Kreditschulden, eskalierte die Situation. Der Staat beschränkte sich auf einige wenige Bargeldauszahlungen. Wenn die Menschen nicht arbeiten gehen durften, um ihr Brot zu verdienen, wäre ein Hungeraufstand unvermeidlich gewesen.

In Russland ist die Kündigung als Widerstand nur in den Bereichen relevant, in denen es einen Mangel an Personal und ein Gefühl für dessen Wert gibt. Massenkündigungen sind sehr unwahrscheinlich, weil es keine breite Selbstorganisation gibt; die Kündigung einiger weniger Arbeiter*innen richtet keinen Schaden an. Die Menschen arbeiten oft inoffiziell, so dass sie keine Abfindung erhalten, und die Leistungen für die Arbeitslosen sind sehr gering. Eine sichtbare Form des Kampfes wird eher die Fortsetzung oder Sabotage der Arbeit als individuelle Praxis sein. Wir sehen noch nicht die Möglichkeit für organisierte Massenaktionen.

Eines von mehreren Videos von Antijob.

Habt ihr die Antiwork-Reddit-Seite aus den Vereinigten Staaten gesehen? Inwiefern ist sie eurem Projekt ähnlich und inwiefern ist sie anders?

Wir haben sie nicht nur gesehen, sondern auch über sie berichtet, auch über eine ähnliche Bewegung in China. In ihrer radikalen Botschaft ähnelt die Bewegung der frühen Antijob-Bewegung, und wir hoffen, dass sie irgendwann auch in unserem Land an Bedeutung gewinnen wird. Für uns ist die Anti-Work-Bewegung eine Ermüdung gegenüber der neoliberalen Arbeitsethik (in den Vereinigten Staaten) und der pseudo-kommunistischen Arbeitsethik (in China). Es scheint, dass diese Ethik in unserem Land noch nicht den Höhepunkt erreicht hat, nach dem eine radikale Ablehnung der Arbeit ernsthaft wahrgenommen werden würde.

Ein weiteres Problem in diesem Kontext ist unser Publikum. Einige von ihnen arbeiten für etwa 300-400 Dollar pro Monat, während sie mit Kindern und Kreditschulden leben. Es wäre etwas unangemessen, sie aufzufordern, die Arbeit zu verweigern.

Was könnt ihr von eurer Position aus zur Invasion in die Ukraine sagen?

Bevor der Krieg begann, bezweifelten einige von uns, dass eine solche Wendung der Ereignisse wirklich möglich sei. Aber es ist passiert. Wir haben eine Erklärung abgegeben, in der wir die russische Aggression verurteilen. Die imperiale Politik Russlands ist für uns offensichtlich. Wie üblich wird sie als “Sicherheitsinteresse” getarnt. Wir haben mehrere Beleidigungen von patriotischen Nutzer*innen erhalten, die uns zu beweisen versuchten, dass der Krieg gegen “Nazis, die LGBT-Propaganda verbreiten” geführt wird, aber dies ist etwas anderes als die patriotische Raserei von 2014 [als das russische Militär die Krym von der Ukraine eroberte].

“Kein Gehalt – esst die Bosse.” Der Aukleber auf Ukrainisch.

Wie wirkt sich die Invasion in die Ukraine auf russische Arbeiter*innen aus? Wie sind die Auswirkungen der Sanktionen auf die Arbeiter*innen in Russland, und wie werden sie sich eurer Meinung nach in Zukunft auf die Arbeiter*innenklasse in Russland bemerkbar machen?

Es gibt durchaus Menschen in Russland, die den Krieg gutheißen, und das sind nicht wenige. Viele Arbeiter*innen leben in der Informationsblase des staatlichen Narrativs “Festung im Belagerungszustand”. Auf ihren Bildschirmen sehen sie die Botschaft “Alle sind gegen uns”. Dadurch werden sie mobilisiert, die Invasion zu unterstützen, indem der Schwerpunkt auf die Vorstellung verlagert wird, dass dies für die Sicherheit Russlands geschieht.

Propagandaplattformen nutzen die internationalen Sanktionen und die Verurteilung, um dieses Narrativ zu verstärken, damit auch diejenigen, die anfangs gezögert haben, Unterstützung zeigen.

Diese Mobilisierung wird natürlich nicht ewig andauern. In ein paar Monaten wird jede*r die wirtschaftlichen Folgen spüren, und wenn der Krieg verloren geht, wird das Ansehen der Regierung beschädigt sein. Dies wird nicht zwangsläufig zu einem Aufstand führen, aber wir können hoffen, dass die soziale Agenda mehr Erfolg bei der Mobilisierung für den Sturz des Regimes haben wird.

Wir planen, auf eine solche Entwicklung vorbereitet zu sein und als Projekt, das direkt mit Arbeitsfragen zu tun hat, diesen Prozess zu unterstützen.

Gibt es irgendetwas, was die Leute tun können, um euer Projekt zu unterstützen?

Der einfachste Weg ist, uns finanziell zu unterstützen. Für die Entwicklung eines solchen Projekts werden immer Mittel benötigt, um die Kosten für das Hosting oder die Arbeit von jemand anderem an dem Projekt zu bezahlen. Darüber hinaus könnt ihr helfen, das Projekt bekannt zu machen. Dies ist besonders in den GUS-Ländern wichtig. Außerdem brauchen wir immer Leute mit Erfahrung in Penetrationstests, die uns helfen, Schwachstellen zu finden und zu beheben, und SEO-Expert*innen, die uns bei der Werbung in verschiedenen Regionen beraten, um den Druck auf die Chefs zu erhöhen.

Und auf der Makroebene könnt ihr ein analoges Projekt in eurer Region ins Leben rufen und euch mit uns in Verbindung setzen, um in Zusammenarbeit ein Netzwerk von Diensten wie dem unseren aufzubauen.

Antijob war bei der Veröffentlichung dieses Buches beteiligt: “‘Work Sets You Free’—Stories about Workers and Employers.”


Anhang I: Arbeitswiderstand

Dieses Manifest, das vor einem Jahrzehnt auf der Website von Antijob erschien, verdeutlicht ihre grundlegende Analyse und ihre Ziele.

Einen wesentlichen Teil des Lebens müssen wir der Arbeit geben. Unsere Kapazitäten, unsere Zeit, unsere Ideen, unsere Erfolge und Misserfolge werden auf Rubel, Dollar und Euro reduziert – leere Geldscheine, die niemals unsere Wünsche und Bedürfnisse erfüllen können. Normalerweise wird diese Arbeit von verspäteten Gehaltszahlungen, den Machenschaften der Bosse, Nervosität und Demütigungen durch lächerliche Regeln und idiotische Chefs begleitet.

Wir glauben nicht, dass das bestehende System der “Ware-Kapital”-Beziehungen, das die Ausbeutung und Zerstörung von Menschen und des Planeten auf das Fließband bringt, irgendwie “von oben” reformiert werden kann. Wirkliche Veränderungen können nur dann eintreten, wenn die Menschen ihre Notlage erkennen und beginnen, selbst nach besseren Lebensbedingungen zu suchen – ohne bei Parteibürokrat*innen oder Gauner*innen aus der Bürokratie um etwas zu betteln.

In der Geschichte gibt es viele Beispiele für rebellische Menschen, die Ausbeutende und Dieb*innen über Nacht verjagen, wahre Gerechtigkeit walten lassen und öffentliche Güter gerecht unter denen verteilen, die sie am meisten brauchen. In diesem Sinne sind wir der libertären (anarchistischen) Philosophie und den Prinzipien der direkten Aktion am nächsten. Mehr darüber könnt ihr in der Rubrik “Bibliothek” auf unserer Website lesen.

Wir haben keine bezahlten Arbeiter*innen und keine Hierarchien. Wir konzentrieren uns auf die Anwendung einer breiten Palette von Kampfmethoden in Arbeitskonflikten. Wir befassen uns mit Problemen im Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen und der Entlohnung sowie mit Problemen, denen Frauen, Jugendliche und nationale, sexuelle und religiöse Minderheiten am Arbeitsplatz ausgesetzt sind.

Durch unsere Aktionen und Propaganda versuchen wir, unter den Arbeiter*innen ein Klassenbewusstsein zu entwickeln und ein Verständnis dafür zu schaffen, dass wir als Klasse ein Interesse an einer sozialen Revolution haben, deren Sieg uns die Möglichkeit bietet, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Wir sehen unsere Website nicht nur als einen Ort, an dem es eine ‘schwarze’ Liste von Bossen gibt (und an dem man Rückmeldungen über Chefs hinterlassen kann), sondern auch als einen Ort, an dem die Kräfte im Klassenkampf koordiniert werden und an dem “direkte Aktionen” zur Lösung von Arbeitskonflikten gefördert werden – im Gegensatz zum bürokratischen Justizsystem, das in Wirklichkeit im Interesse unserer Klassenfeind*innen arbeitet.

Diese Website wurde vor über sechzehn Jahren von mehreren Mitgliedern der Organisation Autonomous Action ins Leben gerufen und hat sich in dieser Zeit aktiv weiterentwickelt. In diesem Jahr wurden in verschiedenen Städten Russlands Solidaritätsnetze eingerichtet, die bereits dazu beigetragen haben, gestohlene Löhne zurückzufordern (Nowosibirsk, Irkutsk, St. Petersburg). Dank antijob.net haben mehr als ein Dutzend Arbeiter*innen ihr Gehalt erhalten, nachdem sie eine Bewertung auf der Website veröffentlicht hatten, denn viele Bosse haben Angst, in solche Listen aufgenommen zu werden – und erst recht auf unserer Website.

“Arbeit gegen die Arbeit.”


Anhang II: Antijob-Erklärung gegen den Krieg in der Ukraine (24. Februar 2022)

Dieser Krieg wird durch die erstickten Ambitionen der russischen Eliten provoziert. Sie versuchen dies zu verschleiern, indem sie vom “nationalen Interesse” sprechen. Aber die arbeitenden Menschen haben und können kein Interesse an der Unterdrückung der Menschen in der Ukraine und im Donbas haben. Unsere Interessen sind Frieden und menschenwürdige Arbeit, nicht der Krieg mit den Ukrainer*innen.

Dies ist eine militärische Aggression, die von der Spitze der Russischen Föderation ausgeht. Doch wir werden diejenigen sein, die die Folgen dieser Entscheidung zu tragen haben. Die Oligarchen und der Präsident werden nicht die Hauptlast der Militärausgaben tragen. Ihre Kinder werden nicht an die Front gehen, ihre Gehälter werden nicht durch Inflation und Währungsabwertung verschlungen werden. Du und ich sind rein gelegt worden.

Das Putin-Regime rächt sich jetzt an der ukrainischen Bevölkerung, weil sie nicht unter dem Stiefel der russischen TschekistInnen [d. h. der Tscheka, der sowjetischen Geheimpolizei von 1917-1922, und ihrer Nachfahren, dem NKWD, dem KGB und heute dem FSB] leben will. Tränen und Särge warten auch auf unsere Mütter, aber die Bomben werden auf die Köpfe unserer Brüder und Schwestern, der Arbeiter*innen in der Ukraine, fallen. Wir haben dies zugelassen, aber jetzt ist es unsere Aufgabe, es so schnell wie möglich zu stoppen.

Heute um 19 Uhr werden in russischen Städten Anti-Kriegs-Aktionen stattfinden. Unser antijob.net-Team ruft dazu auf, sich ihnen anzuschließen und ein Ende der militärischen Aggression zu fordern.


Antijob helped to publish a Russian translation of our book about capitalism, Work. Tragically, the artist who designed it took his own life this week in response to the dehumanizing experience of seeking asylum—first in Ukraine, then in Poland.


Anhang III: Bewertungen von Arbeiter*innen

JSC RTK ist die offizielle Einzelhandelskette von MTS. Warum sollte sie auf die ‘schwarze’ Liste gesetzt werden?

1) Führungsstil: Feudalismus mit autoritären und totalitären Methoden der Einflussnahme. Das heißt: Der gesamte Einzelhandel ist in Abteilungen, Regionen und Sektoren unterteilt, an der Spitze jeder dieser Abteilungen steht eine Person, die sich meist als absolute*r Herrscher*in über das ihr anvertraute Gebiet fühlt und meint, das Recht zu haben, seine*ihre Untergebenen zu demütigen, starken psychischen Druck auf sie auszuüben, seine*ihre Untergebenen zu zwingen, die Kund*innen ohne deren Zustimmung zu täuschen oder ihnen zu versichern, dass es “obligatorisch” ist, Artikel zu Kaufbelegen hinzuzufügen, die: a) sehr unbedeutend sind und b) für den*die Kund*in absolut nutzlos sind. All dies geschieht aus Angst vor Disziplinarmaßnahmen, Geldstrafen, Degradierung oder Entlassung.

2) Haftung. Jeden Monat werden von der Filiale und alle drei Monate von einem Wirtschaftsprüfer Inventuren durchgeführt. Alle Angestellten müssen bei diesen Inventuren anwesend sein, unabhängig davon, ob sie an diesem Tag eine Arbeitsschicht haben. Die Rückkehr zur Arbeit am Tag der Inventur wird nur für diejenigen bezahlt, die eine geplante Schicht haben. Im Falle eines Fehlbestands überschneidet sich die Neusortierung meist nicht; in diesem Fall wird der Überschuss auf die Waage gestellt und der Fehlbestand von den Angestellten abgezogen. Der Fehlbetrag wird in voller Höhe abgezogen und nicht zum Selbstkostenpreis, wie es das Arbeitsgesetzbuch vorschreibt…


Auf der Arbeit gab es eine Sitzung, auf der angekündigt wurde, dass das gesamte Team aufgrund von Problemen im Unternehmen zum Mindestlohn arbeiten würde… Natürlich schrieb ich ein Kündigungsschreiben, aber es stellte sich heraus, dass keiner der Angestellten mehr kündigen wollte, alle arbeiteten wie gewohnt weiter. Zwei Wochen vor meiner Entlassung fand ich auf hh.ru [headhunter, eine beliebte Website für die Stellensuche] eine freie Stelle für meinen eigenen Arbeitsplatz, zum vorherigen Gehalt, und ich war sehr überrascht. Einige Zeit nach meiner Entlassung rief mich der ehemalige Direktor zu einem Gespräch an und bot mir an, mich unter der Bedingung zurückkehren zu lassen, dass ich nicht mehr zu politischen Mahnwachen gehe und nicht mehr in sozialen Netzwerken über meine Aktionen berichte. Angeblich gab es Beschwerden von meinen Kund*innen, dass ich gegen Putin sei. Das war der Grund für meinen Ausschluss. Tatsächlich stellte sich heraus, dass niemandem das Gehalt gekürzt worden war, alle wurden schnell wieder zu ihren früheren Arbeitsbedingungen zurückgebracht, aber man beschloss, mich darüber nicht zu informieren, damit ich aus freien Stücken und ohne Skandal kündigen würde. Und diese ganze Vorstellung wurde durchgeführt, um mich, eine Person, zu täuschen und mich zur Kündigung zu zwingen.

Diese überraschende Geschichte wurde durch ein Foto des Vertrags bestätigt, das auf der Antijob-Website zu sehen ist.